Tage Alter Musik – Almanach 2018
nis“. Das Resümee nach dem Konzert: Auch Stars muss nicht alles gelingen. So, wie es sich darstellte, ist „Vox Luminis“ nicht so sehr ein Ensemble für die konzertant-figu- rierte Welt der Bach-Motetten. Der Klang war schön, wie man ihn von Profis dieses Ranges erwartet. Aber es fehlte völlig – man- gels Dirigent – der gestalterische Durchgriff und der Wille, aus der Bedeutung der Worte musikalischen Ausdruck zu entwickeln. Es fehlt an Profil der einzelnen Klanggruppen, an Kontur dynamischer Abstufungen. Et- was, das zum Beispiel John Eliot Gardiner und seine Solisten vom Monteverdi-Choir in ihrer Aufnahme der Motetten exempla- risch vorführen. Ausnahme: die Motette „Jesu meine Freude“, die ihre expressiven Höhepunkte in quasi solistischen Partien auslebt. Da waren die zwölf Sängerinnen und Sänger von „Vox Luminis“ in ihrem Ele- ment, waren sich alle ihrer Rollen bewusst und zum ausdrucksvollen Singen inspiriert. Es täte „Vox Luminis“ gut, sich nicht am schnellen Erfolg zu berauschen und zu mei- nen, das Terrain des Barock-Mainstream warte nur auf sie. Sie sind im gegenwärtigen Zustand kein hochtrainierter Kammerchor, sondern eine Gruppe subtiler und sensibler Vokalsolisten. Ihre Aufführung von Bachs h-Moll-Messe beim Utrecht-Festival zeigte ebenso die Schwächen ihrer Arbeitsweise gegenüber dieser Musik; leider konnte dieser Eindruck mit den Motetten Bachs nicht be- seitigt werden. Immer wieder begeisternd: die Räume Wie immer warteten auch 2018 die Tage Al- ter Musik in Regensburg mit einer Vielfalt und Qualität an Musikangeboten auf, die gar nicht erst die Idee aufkommen lassen, sich nur auf ein Konzert zu konzentrieren. Bei ei- nem kurzen Gespräch vor dem ausverkauf- ten Konzert des auf Musik des Mittelalters spezialisierten Sollazzo-Ensemble aus der Schweiz in der Minoritenkirche zeigte sich Ludwig Hartmann mit dem Jahrgang 2018 sehr zufrieden. Das Interesse der Besucher lasse nicht nach, wieder seien alle Konzerte ausverkauft gewesen. Das liegt gewiss auch an der unvergleichlichen Verbindung der Musik mit den durchweg historischen und prachtvollen Räumen, die man in dieser Konsequenz bei keinem anderen Festival der Alten Musik findet. Besonders die geistliche Musik der Renaissance und des Barock in Räumen zu präsentieren, die in Architektur und Akustik gleichermaßen die ideale Um- gebung bieten, lockt, inspiriert und beglückt die Musiker ebenso wie die Zuhörer. In der weitläufigen Minoritenkirche lebte das Mittelalter in Regensburg heuer gleich zweimal wieder auf. Feingestimmt, intim, exklusiv im Konzert des Sollazzo-Ensem- bles, das sich unter dem Titel „Blütezeit des Humanismus“ der Musik aus Florenz um 1350 widmete. Und, präsentiert von der französischen Gruppe „La Camera delle La- crime“, lauter, volkstümlich, extrovertiert mit Klängen, wie sie möglichweise Pilgern begegneten, die im 13./14. Jahrhundert eine Wallfahrt zur Schwarzen Madonna imKlos- ter Montserrat in Katalonien gemacht hat- ten. Ich fand, dass es in diesen beiden Kon- zerten deutlich zu hören ist, wie die Spezia- listen dieser so fernen Epoche mittlerweile einen kompetenten und souveränen Auffüh- rungsstil gefunden haben, der meilenweit entfernt ist von den spekulativen Versuchen und dem folkloristischen Anstrich früherer Jahre. Dies in den wenigen Tagen des Pfingstwochenendes erfahren und verglei- chen zu können, ist auch ein Privileg, das den Regensburg-Besuchern vergönnt ist. Zu Gast in Bachs Musiksalon Zur Vielfalt des Angebotes gehört es auch, in einemKonzert des La Folia Barockorchesters und des Vokalensembles Polyharmonique in der Dreieinigkeitskirche einen Blick in die Notenbibliothek des Johann Sebastian Bach werfen zu dürfen. Der Kapellmeister und Thomaskantor war ja nie in den Süden ge- reist und hatte die neuesten Entwicklungen der damals internationalen Musikszene nur aus „zweiter Hand“, nämlich aus von anderen mitgebrachten Partituren, verfolgen können. Dafür hatte er sich aber stets das aktuellste Material besorgen lassen und wusste genau, wo der Musikgeschmack stand. Wo er konnte, führte er die Musik – das meiste von italienischen Komponisten – auf oder er schrieb sie für neue Besetzungen um. Ohne diese Reisen im Geiste wäre Bachs Musik nicht geworden, was sie ist. Daher war es interessant, einmal eine Reihe von diesen Originalen zu hören, etwa Messen von Marco Giuseppe Piranda oder Francesco Durante, das Vorbild der berühmten Arie „Bist Du bei mir“ aus einer Oper von Gott- fried Heinrich Stölzel, oder das Oboenkon- zert von Benedetto Marcello, aus dem Bach ein Konzert für Cembalo solo machte. Mu- siksalon bei Bach gewissermaßen, in dem der Meister zwei wesentliche Eigenschaften of- fenbarte: seinen Respekt und seine Bewun- derung für die Musik seiner Zeitgenossen so- wie seine Meisterschaft, diese Musiken zu verfeinern und in seinen Stil zu integrieren. Ein Beispiel dafür war die viel zu selten ge- gebene Motette BWV 118, „O Jesu Christ, meins Lebens Licht“. Die zehnminütige Be- gräbnismotette ist eine der schönsten Kom- positionen Bachs überhaupt. In ihr integriert er, wie sonst nur im Eröffnungschor der Matthäuspassion, den weiten Atem der klas- sischen Vokalpolyphonie in den Spannungs- bogen der von ihm selbst gesetzten Harmo- nik. Vierstimmigen Chor, Streicher sowie Posaunen und Oboen spannt er zusammen zu einem Fluggerät aus Tönen, mit dem die Seele von irdischen Lasten gelöst, emporge- tragen und an ihren Ort „im Himmel“ ent- lassen wird. So ging es der musikfreudigen Seele allgemein in Regensburg 2018. Wieder wurde sie zu Regionen emporgetragen, die im Alltag des Musikbetriebes meist ver- schlossen bleiben. Klingende Erfahrungen für ein ganzes Jahr Mainstreamkultur. Am Ende des Regensburger Festivals weiß man, was einem fehlen wird. KlassikInfo.de 43 Bruno Bonhoure und La Camera delle Lacrime in der Minoritenkirche
RkJQdWJsaXNoZXIy OTM2NTI=