Tage Alter Musik – Programmheft 2019

35 T age a LTeR M USIK R egenSBURg Konzert 5 unter letzterenarien, Rezitative und Choralstro- phen zu verstehen sind. In der Matthäus-Passion begegnen wir also keinem homogenen Sprach- kunstwerk, sondern verschiedenen Textschich- ten, die eng miteinander in Beziehung stehen. In struktureller Hinsicht liefert der evangelist die grundlage der erzählung, also den bibli- schen Bericht. Daneben werden die aussagen einzelner Personen auf verschiedene Sänger ver- teilt, den sogenannten Soliloquenten – wobei in der Matthäus-Passion gleichzeitig deutlich unter- schieden wird, ob Jesus oder einer der „alienae personae“ (wie etwa Petrus, Judas, der Hohe- priester, Pilatus etc.) spricht. es gibt jedoch keine strenge aufteilung der einzelnen Personen auf einzelne Stimmen wie beispielsweise in Heinrich Schütz‘ Historia des Leidens und Sterbens unseres Herren und Heiland Jesu Christi nach dem Evange- listen Matthäus (SWV 479). als eigene ebene des Passionsberichts erweisen sich auch die Turbae, also gruppenaussagen, die vom ersten und/oder zweiten Chor gesungen werden. als letzte Text- schicht erweisen sich für wichtige ereignisse der erzählung kommentierende elemente, die nicht nur solistisch, sondern auch chorisch zu gehör gebracht werden. Die Disposition des Textes stellt sich in der gesamtheit aller ebenen schließlich als eine streng orga- nisierte Form der einzelnen Passionsszenen dar, die Henrici letztlich in Rücksprache mit Bach erarbeitete. zur Musik der Matthäus-Passion Die musikalische Umsetzung des Textes kann nun derart verstanden wer- den, dass sie sowohl die Handlung an sich wie auch den geistlichen Hinter- grund der Leidensgeschichte auf unnachahmliche Weise transportiert. gerade im Falle der Matthäus-Passion sorgt also die Musik, anders als der reine – sehr heterogene – Text, für die sinnstiftende einheit, die aber kei- neswegs als musikalische Form im strengen Sinne bezeichnet werden darf. Konzentriert man sich auf die musikalische Struktur, so ist das Werk in zehn Satzpaare von Rezitativ und arie einzuteilen (Parte prima: Sätze 5– 6, 12–13, 19–20, 22–23; Parte seconda: 34–35, 48–49, 51–52, 56–57, 59–60, 64–65). Innerhalb dieser Paare wechselt weder die vokale noch die instru- mentale Besetzung, und auch harmonisch sind sie entweder durch paral- lele Tonarten oder durch Quintverwandtschaft eng miteinander verbun- den. Häufig wird der Frage nachgegangen, inwiefern Bach den Text von Henrici musikalisch ausdeutet. Zum Beispiel tritt der Chor I im ersten Teil in den Sätzen 4d, 9b und e (personifiziert als Jünger Jesu) auf, was möglicherweise als musikalische Textausdeutung verstanden werden kann. Jedoch wird diese strikte inhaltliche Trennung der Chöre über das Werk hinweg nicht beibehalten und schon gar nicht von Bach musikalisch umgesetzt, der die Vorlagenkonzeption in der vokalen Besetzung schlicht nicht berücksich- tigt. es lassen sich aber dennoch charakteristische gemütszustände ver- schiedenen Stimmlagen zuordnen, an denen man sich anhand einzelner Begriffe orientieren kann: Prinzipiell stellt Bach mit der Sopranstimme die hoffnungsvolleren Seiten dar, die sich vor allem in ihrer Hingabe und Dankbarkeit personifizieren ließen. Dagegen trifft man den ausdruck des schmerzlichen Mitleidens vorrangig in der dunklen altstimme an (z. B. in der Da Capo-arie „Buß und Reu knirscht das Sünderherz entzwei“, Satz 6; Weinen, „ach“). Der Bass nimmt meist eher die Rolle der nachfolge Christi ein (Satz 23 und 57) oder kommentiert das geschehen (Satz 22 und 64); der Tenor lässt dagegen keine derartigen Charakterisierungen erken- nen. Dass diese überhaupt nur begrenzt möglich sein können, ist in anbe- tracht des gängigen Parodieverfahrens mehr als nachvollziehbar. Bedenkt man, dass im extremfall auf die gleiche musikalische Substanz auch das Wort „Ruh“ (Trauermusik für Fürst Leopold von anhalt Köthen, BWV 244a, Satz 19) statt „wachen“ ( Matthäus-Passion , Satz 20) fallen kann, so leuchtet ein, dass wörtliche Textausdeutungen gerade bei Bach prinzipiell mit Vorsicht zu genießen sind. eine der unzähligen musikalischen Besonderheiten der Matthäus-Passion bilden die Rezitative der genannten Rezitativ-arie-Satzpaare, deren Rezi- tative accompagnato und darüber hinaus in den Instrumenten motivisch individuell auskomponiert sind. Diese Individualität trifft man selten auch schon in den bis dahin entstandenen Kantatensätzen von Johann Sebastian Bach an, in denen neben dem generalbass ebenfalls ein Instrumentalpart hinzutreten kann. Doch weitet Bach dieses Vorgehen erstmals in der Mat- thäus-Passion auf ganze Sätze aus, anstatt nur bei einzelnen abschnitten darauf zurückzugreifen. Wie diffizil Bach die einzelnen Texte musikalisch ausarbeitete, kann bei- spielsweise an Satz 14 („Und da sie den Lobgesang gesprochen hatten“) eindrucksvoll dargestellt werden, der sich innerhalb von 15 Takten als Mittelweg zwischen Rezitativ und arie zu erkennen gibt. Der evangelist Johann Sebastian Bach, Matthäus-Passion BWV 244, Titelblatt des Autographen J. S. Bach, Autograph, Matthäus-Passion BWV 244, Nr. 24-25

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