Tage Alter Musik – Programmheft 2019

39 T age a LTeR M USIK R egenSBURg Konzert 6 zum Programm: Martin Luther – Die Macht der Musik In einem Brief vom 4. oktober 1530 an Ludwig Senfl (um 1488/1489-1543), demHofkapellmeister der bayerischen Herzöge, findet sich Martin Luthers berühmt gewordene Bemerkung: „Und ich sage es gleich heraus und schäme mich nicht, zu behaupten, dass nach der Theologie keine Kunst sei, die mit der Musik könne verglichen werden.“ Diese Position steht in krassem gegensatz zu der einiger zeitgenössischer Reformatoren, welche, irritiert von der Macht der Musik, die Seele zu berühren, diese Kunst schier aus der Kirche zu verbannen suchten. Luther trachtete hingegen danach, die eigenschaf- ten der Musik zumVorantreiben seiner Reformen zu nutzen. Für ihn stellte die Musik ein wirkmächtiges Werkzeug dar für private andacht und Zer- streuung, zur Stärkung der gemeinschaftlichen Bindungen, zur Verbrei- tung seiner Botschaft sowie für das öffentliche auftreten. Luthers hohe Wertschätzung der Musik beruhte auf persönlicher erfah- rung. als Schüler in eisenach sang er regelmäßig und an der Universität erhielt er eine ausbildung in spekulativer Musiktheorie, einer der sieben freien Künste. er spielte Laute und verstand sich aufs Komponieren. als gut ausgebildeter Musiker unterstrich er immer wieder die Bedeutung der Musik nicht nur für die Liturgie, sondern auch als wesentlicher Bestandteil der allgemeinbildung. er bemerkte einmal in einer berühmt gewordenen Schrift, dass jeder Schulmeister in der Lage sein müsse zu singen, und betonte den Stellenwert der Musikpädagogik in seinem Leitfaden von 1524 für die gründung von Schulen (,‚An die Bürgermeister und Ratsherren allerlei Städte in deutschen Landen, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“) . Dementsprechend spielte die Musik eine zentrale Rolle in den Schul-Curricula, und sie erfuhr in den lutherischen gebieten während der Reformation ein enormes Wachstum. Martin Luther plante auch selbst eine abhandlung über die Musik, aber diese wurde niemals fertiggestellt. Die herausragendste musikalische Äußerung von Luthers Reformen stellt zweifellos das von ihm initiierte Repertoire von Kirchenliedern in der Volkssprache dar: das Choral- oder gesangsbuch. Mit ihren poetischen Liedversen in deutscher Sprache, die mit eingängigen und leicht zu merkenden Melodien vertont wurden, ermöglichten diese Lieder den gläubigen das gemeinsame Singen sowie auch theologische und spirituelle Ideen auszudrücken und zu teilen. Sie wurden im häuslichen Rahmen, aber auch öffentlich sowie zu pädagogischen Zwecken verwendet. Zudem hat sich von anfang an das Choral-Repertoire zu einer der bedeutendsten Quellen der musikalischen Inspiration für luthe- rische Komponisten entwickelt. Das erste lutherische gesangbuch mit Chorä- len immehrstimmigen Satz, „Eyn Geystlich Gesangk Buchleyn“ von 1524, wurde verfasst von Luthers engem Wegbegleiter Johann Wal- ter (1496-1570), dem Leiter der kursächsischen Hofkapelle, Kantor an der Torgauer Lateinschule und Leiter der Stadtkantorei sowie selbst ernannten „Wortfüh- rer“ der lutherischen Musik. Seither haben Choräle auf zahllose arten als grundlage für neue Kompositionen gedient. Zwei parallele Vorgehens- weisen verhalfen dem Choral-Repertoire zu seiner entstehung: die neu- verwendung und Bearbeitung schon vorhandener sowie die Schaffung völlig neuer Stücke. Luther ergriff selbst die Initiative, Vorlagen für bei- derlei zu liefern, und seine Werke nehmen einen besonderen Stellenwert im Repertoire ein. Den choralbasierten Stücken des heutigen Konzerts lie- gen Luther-Werke zugrunde. Die erstgenannte Vorgehensweise, nämlich die neuverwendung und Bearbeitung vorhandener Stücke, führte oft zur erstellung neuer Liedtexte in Versform in der Volkssprache. „Christ lag in Todesbanden“ ist ein typisches Beispiel dafür. es wurde 1524 von Luther unter dem Titel „Christ ist erstanden“ in anlehnung an das gleichnamige beliebte osterlied veröffentlicht; der Text wurde verändert, aber das Wesentliche der hergebrachten Melodie beibehalten. Luther war der Tat- sache wohl eingedenk, dass sich die Verwendung weithin bekannten und beliebten schon vorhandenen musikalischen Materials, einschließlich gre- gorianischer Choräle und weltlicher Lieder, von unschätzbarem Wert bei der Verbreitung der neuen religiösen Lehre erweisen könnte. Die beiden Vertonungen von „Christ lag in Todesbanden“ von Johann Walter belegen die über ein Jahrhundert geltenden charakteristischen Vorgehensweisen bei der mehrstimmigen Bearbeitung von Choralmelodien als sogenannten Choral-Motetten: Die zugrunde liegende Choralmelodie wird in einer der Stimmen beibehalten – in beiden Fällen ist dies hier der Tenor, und die Form des Chorals bestimmt die gesamtform der Komposition. Walters Vertonungen verwenden kontrastierende Besetzungen: in einem Fall die vier unterschiedlichen Register-Stimmen; die später typisch für Choral- harmonisierungen werden sollten, und im anderen Falle fünf Stimmen, hier wurde das typische Vier-Stimmen-Schema durch eine zusätzliche Stimme im Tenor-Register ergänzt. Beide umrahmen die Melodie im imitie- renden Kontrapunkt, welcher Kontinuität zwi- schen den einzelnen Choralphrasen herstellt. Ähnliche Verfahren zeigen sich in den Cho- ral-Motetten von Walters jüngerem Zeitge- nossen Caspar othmayr (1515–1553). oth- mayr war einer der ammeisten bewunder- ten Musiker seiner Zeit und hatte verschie- dene einflussreiche Positionen inne, dar- unter als Rektor der Klosterschule in Heils- bronn und Propst des ansbacher Kollegia- tenstiftes St. gumbertus. er kannte Walter persönlich und verfasste den bewegenden Trauergesang Epitaphium D. M. Lutheri“ auf Luthers Tod. Seine Vertonung von „Christ lag in Todesbanden“ stammt aus seinen „Bicinia sacra“, einer 1547 in nürnberg veröffentlichten Sammlung zwei- stimmiger geistlicher Lieder. Die Stücke verdanken ihr ent- stehen zweifellos seinemWirken als Lehrer: Solche zweistimmigen Kom- positionen dienten ausdrücklich pädagogisch-didaktischen Zwecken. eine Stimme übernahm die Choralmelodie ohne auszierungen, während die andere einen schnelleren Kontrapunkt darüber wob. eine letzte Fassung von „Christ lag in Todesbanden“ entstammt dem Schaffen eines der bedeutendsten Vermittler der Choral-Motetten-Tradi- tion in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Balduin Hoyoul (um 1547– 1594). Hoyouls Werdegang belegt, wie Musiker die konfessionellen gren- zen zwischen Katholiken und Protestanten überwinden konnten. Der ursprünglich aus Lüttich stammende Hoyoul war Chorknabe an der würt- Illustration aus der Erstausgabe von „Utopia“, Holzschnitt (1516) Orlando di Lasso (1532-1594) Josquin Desprez (1450/55-1521)

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