Tage Alter Musik – Programmheft 2019
41 T age a LTeR M USIK R egenSBURg Konzert 6 tembergisch-lutherischen Hofkapelle Stuttgart. aufgrund seiner musika- lischen Begabung wurde er jedoch an den zutiefst katholischen Hof von Herzog albrecht V. nach München gesandt, um bei dem renommiertesten Musiker seiner Zeit, demKapellmeister der Münchner Hofkapelle orlando di Lasso (1530 oder 1532–1594), zu studieren. nach seinem Studium kehrte Hoyoul als altist und Komponist nach Stuttgart zurück und wurde schließlich zum Hofkapellmeister ernannt. Für Stuttgart schrieb er seine Motetten auf deutsche Choralmelodien. In „Christ lag in Todesbanden“ erklingt die Choralmelodie mehr oder weniger unverändert in der Tenor- stimme, außer einer schmückenden Tonmalerei bei „gott loben“. „Verleih uns Frieden“ ist, genau wie „Christ lag in Todesbanden“, ebenfalls eine Bearbeitung einer schon vorhandenen Komposition, in diesem Fall von Luthers Paraphrase über die lateinische antiphon für den Frieden „Da pacem Domine“. Die von Luther verfasste Melodie des „Verleih uns Frieden“ besitzt einige Ähnlichkeiten mit dem herkömmlichen gregoria- nischen Choral der lateinischen antiphon, ist aber auch mit dem altkirch- lichen Hymnus „Veni redemptor gentium“ verwandt. Bei der im heutigen Programm enthaltenen Vertonung – einem anonymen Werk, das für den dänischen Hof in Kopenhagen in der Mitte des 16. Jahrhunderts kopiert wurde – ist die Choralmelodie der oberstimme zugewiesen, eine Beset- zung, die im gegensatz zu den früheren Tenorbesetzungen im späteren 16. Jahrhundert zunehmend dominierte. Die Melodie wird in einfachem Rhythmus dargeboten, während eine zweite Stimme im selben Register und drei weitere Stimmen darunter einen nur relativ wenige Unterbre- chungen aufweisenden, schneller fortschreitenden Kontrapunkt um sie herum weben. Luthers Vorstellung von der Reformation unterschied sich grundsätzlich von der Calvins und Zwinglis. nichtsdestoweniger hielt er es wie sie für besonders wichtig, die gemeinde dazu zu befähigen, die Psalmen in ihrer eigenen Sprache zu singen. ein Teil des Choral-Repertoires besteht also aus deutschen Psalmübersetzungen in Versformmit Melodien, die es ent- weder bereits gab oder welche neu komponiert wurden. ein frühes Beispiel dafür stellt „aus tiefer not“ dar, eine Übersetzung des Psalms 130, „De profundis“, die Luther 1524 als Mustervorlage veröffentlichte, um andere zu ermutigen, ähnliche Versübersetzungen von Psalmen anzugehen. Die Melodie dazu wurde neu geschrieben. Sie hören im heutigen Konzert verschiedene Vertonungen von „aus tiefer not“, die sowohl Kontinuität als auch Veränderungen in der Komposi- tionspraxis vom frühen 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts belegen. Die beiden ältesten Vertonungen, von Lupus Hellinck (um 1494– 1541) und arnold von Bruck (um 1500–1554), bezeugen zudem, dass trotz Kirchenspaltung Choräle katholischerseits keineswegs ver- schmäht wurden. Hellinck wurde in Brügge ausgebildet und kehrte nach dem Priesteramtsstudium dorthin zurück, um als erwachse- ner Kirchenmusiker an der „Sint- Donaaskathedraal“, der bedeu- tendsten Kirche der Stadt, zu wir- ken. obwohl er kein Protestant war, hat er dennoch eine Reihe von geistlichen deutschen Liedern ver- tont. Sein „aus tiefer not“ ist vier- stimmig gesetzt, mit dem Choral klar im Tenor. arnold von Bruck wirkte hauptsächlich am Hof des Habsburger erzherzogs (und spä- teren Kaisers) Ferdinand, bevor er sich in Wien und Linz auf einträg- liche Pfründen zurückzog. Wie Hellinck war er kein Protestant, aber trotzdem vertonte er eine anzahl deutscher Choräle. Sein „aus tiefer not“ trägt die Choralmelodie sowohl im Tenor als auch in der oberstimme. Mattheus Le Maistre (um 1505–1577) begann seine Laufbahn am Hof der katholischen Wittelsbacher in München, trat aber später zum evangeli- schen glauben über und folgte auf Johann Walter als kursächsischer Kapellmeister in Dresden. als Walters nachfolger bezog er seine Inspira- tionen stark aus den musikalischen Traditionen, die sein berühmter Vor- gänger begründet hatte. Sein „aus tiefer not“ entstammt seiner gemischten Liedersammlung zu geistlichen und pädagogischen Zwecken, welche 1566 unter dem Titel „Geistliche vnd Weltliche Teutsche Geseng, Mit vier vnd fünf Stimmen künstlich gesetzet vnd gemachet “ in Wittenberg erschien. In der vier- stimmigen Vertonung erscheint der Choral zweifach, in der oberstimme sowie im Tenor. Den bedeutendsten Beitrag zur lutherischen Musiktradition lieferte im frühen 17. Jahrhundert zweifellos der unglaublich vielseitige und höchst produktive Komponist, Musiktheoretiker und Verleger Michael Praetorius (1571–1621). In einer monumentalen Reihe von zwanzig Veröffentlichun- gen, die sowohl sein eigenes Musikschaffen als auch das anderer Kompo- nisten enthalten, frischte er das lutherische Repertoire auf und brachte es in der „neuen italienischen Concerten-Manier“ auf den neuesten Stand. Dieser moderne Stil nach dem Vorbild des venezianischen Komponisten giovanni gabrieli zeigt sich in dem großbesetzten, achtstimmigen „aus tiefer not“, bei dem zwei Chöre auf der Choralmelodie beruhende dekla- matorische Phrasen austauschen. Praetorius‘ Vorbild folgte Johann Crüger (1598–1662), bedeutender erneuerer der Choraltradition, Komponist vieler neuer Choräle und der Herausgeber des ammeisten verbreiteten evange- lischen gesangbuches des 17. Jahrhunderts, „Praxis Pietatis Melica“ (1647). Crügers „aus tiefer not“ im heutigen Programm stammt aus seinen „geistlichen Kirchen-Melodien“ (1649), einer auswahl von Liedern aus der „Praxis Pietatis Melica“ von 1647 im meist vierstimmigen Kantional- satz mit zwei fakultativen Instrumentalstimmen und Basso continuo. Das Stück ist eine einfache homophone Choralharmonisierung mit der Melodie in der oberstimme und in klar umrissenen Phrasen. ein bedeutender Teil von Luthers Reformen bestand darin, die gemeinde weitestgehend an der Liturgie zu beteiligen. Dementsprechend wurden nicht nur die Psalmen, sondern auch andere traditionelle lateinische Texte ins Deutsche übersetzt. Zu den bedeutendsten gehörte das „Vater unser“, InAlto, St.-Oswald-Kirche 2018
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