Tage Alter Musik – Programmheft 2019

42 T age a LTeR M USIK R egenSBURg Konzert 6 das Luther in den späten 1530er Jahren als „Vater unser im Himmelreich“ nachdichtete. InWalters Satz wird die Choralmelodie von der Tenorstimme übernommen, sie ist von schnellerer Harmonik ohne Unterbrechungen umgeben. othmayrs Fassung stammt aus derselben Bicinien-Sammlung wie sein „Christ lag in Todesbanden“ und wirkt musikalisch auf gleiche Weise. Johannes eccard (1553–1611) war wie Hoyoul ein Schüler orlando di Lassos in München, aber seine berufliche Laufbahn führte ihn in preu- ßische Dienste an die protestantische Hofkapelle in Königsberg (später ging er nach Berlin). Sein „Vater unser“ ist ein einfacher, deklamatorischer Satz mit der Choralmelodie in der oberstimme. Hoyouls „Unser Vater“ verwendet eine etwas anders formulierte deutsche Übersetzung des Textes, die mit einer anderen Choralmelodie verbunden ist. Der Satz ist fünfstimmig gehalten, was typisch ist für Hoyouls Cho- ral-Motetten. Weniger typisch ist hingegen das erscheinen der Choralme- lodie in der oberstimme und nicht im Tenor. Die gleiche grundmelodie wird dreimal vorgetragen, wobei jede Wiederholung mit einem Kontra- punkt in variierter Form versehen ist. auch wenn er radikal mit der Vergangenheit brach, so hat Luther dennoch die Tradition hoch geschätzt. Tatsächlich sah er seine Reformation nicht als Bruch, sondern als Rückkehr zu den reinen Ursprüngen des Christentums. als Pragmatiker war ihm klar, dass die gläubigen die Möglichkeit haben sollten, ihre gottesdienste in einer Sprache zu feiern, die sie verstanden; dennoch hat er Latein (und das Ver- ständnis des Lateinischen) als Ideal hochgehalten. In gleicher Weise ver- teidigte er in Hinsicht auf die Musik neben der Schaffung des evangeli- schen Choral-Repertoires sowohl das traditionelle gregorianische-Cho- ral-Repertoire der Kirche als auch die polyphonen Meisterwerke der Kom- ponisten, mit deren Musik er aufgewachsen war und welche er auch als erwachsener sehr schätzte. Seine Vorliebe für die Musik des bedeutendsten Komponisten an der Wende zum 16. Jahrhundert, Josquin des Prez (um 1450–1521), war weithin bekannt und trug dazu bei, Josquins Musik im Repertoire nach seinem Tod zu erhalten (Luthers Kommentar dazu ist berühmt geworden: „Josquin ist der noten meister, die habens machen müssen, wie er wollt, die anderen sangmeister müssens machen, wie es die noten haben wöllen.“) als es darum ging, die im entstehen befindliche evangelische Kirche mit einem geeigneten musikalischen Repertoire zu versehen, wurde vieles aus der Vergangenheit herübergerettet. Diese traditionellere Seite der luthe- rischen Reformation ergibt sich deutlich aus den Musiksammlungen, die von dem Wittenberger Buchdrucker georg Rhau, dem „inoffiziellen“ Musikverleger der Reformation, zwischen 1539 und 1545 herausgegeben wurden. Rhaus Musikdrucke enthalten nicht nur etliche Kompositionen aus der Vergangenheit, insbesondere von Josquin wie auch von dessen Zeitgenossen, sondern auch sehr viele für ein katholisches Umfeld glei- chermaßen geeignete Stücke. es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Luthe- raner in diametralem gegensatz zu den Katholiken standen; es gab im gegenteil erhebliche Überschneidungen bei den musikalischen gepflo- genheiten. Besonders häufig waren die Vertonungen lateinischer Texte, auf denen populäre Choräle basierten. Der Psalm 130 „De profundis“ in der deut- schen Übersetzung „aus tiefer not“ bietet dafür ein gutes Beispiel: eine Fassung von Luthers so hoch geschätztem Komponisten Josquin findet sich in mehreren Wittenberger Handschriften aus der Mitte des 16. Jahr- hunderts. Josquins Vertonung umfasst den vollständigen Psalmtext sowie weitere Texte, die unter anderem aus der Totenmesse (Requiem/ Missa pro defunctis ) stammen. ein anderes „De profundis“, das sich in lutherischen Kreisen im Umlauf befand, war Ludwig Senfls beeindruckende fünfstimmige Vertonung. Senfl war der bedeutendste und einflussreichste Komponist im deutschsprachi- gen Raum in der Frühzeit der Reformation und wirkte hauptsächlich am katholischen Hof der bayerischen Herzöge in München. Trotzdem sym- pathisierte er mit der lutherischen Lehre, wie seine Korrespondenz mit Luther belegt. Sein „De profundis“ ist eine Vertonung des kompletten Psalms in frei komponierter imitierender Mehrstimmigkeit mit einer Zwei- teilung des Stückes (Psalmverse 1–5 sowie 6–8). In ähnlicher Weise kursierte Josquins „Pater noster“, eine Vertonung des gebetes des Herrn, in lutherischen Kreisen als gegenstück zu „Vater unser im Himmelreich“. Das Stück gehört zu Josquins allerletzten Kompositio- nen. Josquin selbst verfügte, dass nach seinem Tode das „Pater noster“ zusammen mit seinem „ave Maria“ bei Prozessionen vor seinem Haus amMarktplatz von Condé-sur-escaut, wo er seinen Ruhestand verbrachte, gesungen werden sollte. Das sechsstimmige Stück ist eine freie Komposi- tion ohne Verwendung von bereits vorhandenem Material, jedoch um einen zweistimmig notierten Kanon, der zwischen Tenor undaltus herum strukturiert ist. Die Stimmen singen selten alle gleichzeitig und schaffen eine komplexe, sich ständig verändernde Textur, während verschiedene Choruntergruppen sich wechselchörig, u. a. mit echowirkung, antworten. Das durch „Christ lag in Todesbanden“ „gebesserte“ osterlied „Christ ist erstanden“ ist eine Kontrafaktur der traditionellen ostersequenz „Victimae paschali laudes“. eine Vertonung von Josquin gehört zu dessen frühesten erhaltenen Werken und verbindet Zitate des überkommenen gregoriani- schen Chorals im Tenor mit den Melodien zweier weltlicher Lieder in der oberstimme: ockeghems „Dung aultre amer“ im ersten sowie Hayne van ghizeghems „De tous biens plaine“ im zweiten Teil. orlando di Lassos Komposition aus seiner 1573 veröffentlichten Sammlung „Patrocinium musices“ ist ein fünfstimmiges Werk, bei dem choraliter gesungene Verse und Verse immehrstimmigen Satz alternieren. Die polyphonenabschnitte behandeln den gregorianischen Choral in traditioneller Cantus-firmus- Weise mit kontrastierenden Besetzungen. Praetorius‘ Vertonung für zehn auf drei kontrastierende gruppen verteilte Stimmen mit Instrumenten ist im prachtvollsten mehrchörigen gabrieli’schen Stil gehalten. aus Presti- gegründen wurde dem Ideal prachtvoller Musik mit lateinischem Text für öffentlich-repräsentative aufgaben der Vorzug gegeben. nur wenige ereig- nisse verdeutlichen dies besser als die Weihe des ersten rein protestanti- schen Kirchenbaus, nämlich der Torgauer Schlosskapelle (auch als Tor- Michael Praetorius (1571-1621), Kupferstich, 1606

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