Tage Alter Musik – Programmheft 2020

53 T age a LTeR M uSIK R egenSBuRg Konzert 11 zum Programm: „L’europe Galante“ – Mannheim, wien, Mailand Das Ziel dieses Programms mit dem namen L’Europe galante ist es, eine Übersicht über die musikalische Tradition des europäischen früh-klassi- schen Zeitalters zu bieten, so vergleichend und detailliert wie im Rahmen eines einzigen Konzertes möglich. Vergleichend ist es, weil es einflussrei- che Vertreter von drei wichtigen Schulen dieser Zeit beinhaltet: Mannheim, Wien und Mailand; detailliert ist es, indem es Symphonien und Konzerte aus Sammlungen enthält, welche vom Standpunkt technischer Komple- xität und damaliger Innovativität bedeutsam sind. einer art geographischem Muster folgend, präsentiert unser Programm auf den ersten Schritten der Grand Tour – der kulturellen Reise, die euro- päische adlige im 18. Jahrhundert unternahmen – einen direkten Vergleich von sechs Komponisten: Johann Wenzel anton Stamitz (1717-1757) und Ignaz Jakob Holzbauer (1711-1783), die großen Meister des Mannheimer Stils; georg Christoph Wagenseil (1715-1777) und georg Matthias Monn (1717-1750), zwei der am meisten gefeierten Komponisten der Wiener Schule; giovanni Battista Sammartini (1700-1775), dessen name allein bereits den Mailänder Musikgeschmack verkörpern könnte, und schließ- lich Carl Philipp emanuel Bach (1714-1788), ein Komponist, der alle ästhe- tischen Facetten einer Zeit konzentriert, die nicht länger Barock, aber auch noch nicht klassisch war. Das Programm beginnt in Wien, mit der brillanten Symphonie in D-Dur WV 376 von Wagenseil, einem regelrechten Manifesto der neuen empfind- samkeit. Charakterisiert durch formale Schlichtheit, die trotzdem nie in die Bedeutungslosigkeit versinkt, stellt dieses dreiteilige Werk ein mus- terhaftes Beispiel des Wiener geschmacks und zweifellos ein Vorbild für jüngere Komponisten wie Haydn oder Mozart dar, die später die größten Komponisten ihrer Zeit werden sollten. es enthält sämtliche wichtige effekte und Motive des genres: die strahlende Virtuosität des allegro, die elegische atmosphäre im langsamen Satz und in technischer Hinsicht eine konsistente erneuerung der Sonatenform. Dieselben aspekte sind ebenso, oder vielleicht sogar noch stärker, präsent in Monns gefeiertem Konzert in g-Moll für Cembalo und Streicher mit seinen bestimmten und zugleich tief pathetischenaußensätzen und dem sanften und pastoralenadagio, womit es in gewisser Weise fast schon die Moll-Klavierkonzerte Mozarts vorweg- nimmt. Mit dem ruhelosen Orchestertrio in C-Dur Op. 4 Nr. 3 von Johann Stamitz und mit Holzbauers Symphonie in A-Dur Op. 2 Nr. 4 ändert sich die Stim- mung schlagartig, denn mit ihnen stürmt der Mannheimer Stil die Bühne. Typisch für ihn sind diese Stücke von energischer Intensität, sie blicken zurück auf den Barock, verkörpern aber zugleich auch den geist der spä- teren symphonischen Werke des Sturm und Drang. Beide Komponisten verweigern sich dem strengen Kontrapunkt, wenngleich imitierende Pas- sagen zwischen den Teilen die Basis ihres Komponierens bilden. aus emo- tionaler Sicht ist ihr Stil durch stark rhythmische und scharf kontrastie- rende Melodien geprägt, deutlich mehr als bei ihren Wiener Kollegen – so ist es in der Tat nicht erstaunlich, dass Charles Burney das Mannheimer orchester unter Stamitz’ Leitung „eine armee aus generälen“ nannte. Dennoch sind beide Stücke technisch wohldurchdacht, mit nuancierten Timbre-Schattierungen, während sie ansonsten eher zwischen zwei extreme fallen, auf der einen Seite das klanggewaltige orchester, auf der anderen die schlichte Kammermusik. anschließend nach Mailand zu gehen, ist eine logische Fortführung unse- rer Reise. einer der wichtigsten Vertreter der Mailänder Schule ist tatsäch- lich giovanni Battista Sammartini, dessen Symphonie in G-Dur J-C 39 deut- lich die fundamentale evolution der neuen empfindsamkeit hin zum klas- sischen Stil verkörpert, weshalb Sammartini auch als einer der Väter der modernen Symphonie angesehen wird. Sein kunstvoll geschriebenes Werk ist wegen der gleichzeitigen Präsenz typisch barocker – fast Vivaldi-artiger –, aber auch anderer, besonders harmonisch ungewöhnlicher Formen, von großer Bedeutung. Das ergebnis ist eine bunte Komposition mit noblem Charme, repräsentativ für die Übergangsphase, die bald die altmodischen Kunstideale überholen sollte. Stürmische Virtuosität, absolute Modernität und auffällig eingesetzte Instrumente sind die deutlichsten Merkmale der Symphonie in G-Dur Wq. 182 Nr. 1 von Carl Philipp emanuel Bach. Der Übergang zwischen den geistern der empfindsamkeit und des Sturm und Drang erreicht hier ein nie zuvor dagewesenes niveau, und viele Charakteristika des Komponis- ten sind hier vereint: unterbrochene Rhythmen, Pausen, überraschende Modulationen, fragmentierte Passagen und unerwartete Schlüsse. Viel- leicht besser als jeder andere Komponist seiner Zeit war er in der Lage, die traditionellen Formen zu überholen und einen einzigartigen, persön- lichen Stil zu finden – intellektuell sowie emotional –, der sich schon bald als wichtig und wegweisend für die Musik auf dem Weg ins neunzehnte Jahrhundert erwies. © Marcello Di Lisa Übersetzung: Lukas Fröhlich, UR Johann Georg Ziesenis (1716-1776): Porträt von Karl Theodor von der Pfalz im kurfürstlichen Ornat mit Hubertusorden und Marschallstab (1724-1799) Johann Stamitz

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